Wann setzt beim Menschen die psychische Entwicklung ein?
In einem Interview mit dem Magazin Der Spiegel erklärt der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther, wie die Schwangerschaft die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit prägt. Laut Gerald Hüther beginnt die psychische Entwicklung schon zu dem Zeitpunkt, an dem zwei Menschen sich für ein Kind entscheiden und dabei schon gewisse Vorstellungen davon haben, wie dieses Kind einmal sein oder was aus ihm werden könnte. Denn genau deren Erwartungshaltung habe einen starken Einfluss auf die Erfahrungen, die das Kind bei seinen Eltern machen wird. Schon vor der Geburt werde das kindliche Gehirn ganz individuell geprägt durch das, was aus seinem eigenen Körper und dessen Umgebung bei ihm ankommt. Erfahrungen der schwangeren Mutter kämen auch beim ungeborenen Kind an, wie z.B. die Nahrung, bestimmte Gewürze, Gerüche oder die Stimmen der Eltern. Fühle die Mutter sich wohl, erlebe auch das Kind Geborgenheit und Wohlgefühl (Das Herz des Kindes schlägt ruhig und die Bauchdecke entspannt sich). Aber auch negative Erfahrungen wie z.B. Ängste, Stress, Streitereien, Schläge oder die Trennung vom Vater kämen beim ungeborenen Kind an und verursachen eine Schutzhaltung (Der Herzschlag des Kindes wird schneller, der Blutdruck steigt, die Bauchdecke wird hart und das Kind erstarrt). Da Babys unreif auf die Welt kämen und auf Hilfe angewiesen seien, sei es für sie sehr wichtig in einer neuen Umgebung die vertrauten Stimmen ihrer Mütter bereits zu kennen, da Mutterstimmen eine beruhigende Wirkung hätten und dadurch auch die Mutter-Kind-Bindung besser gestärkt werden kann. Sicherheit und Geborgenheit seien in den ersten Lebensjahren eines Kindes sehr bedeutend. Aus diesem Grund seien sie sehr empfindlich gegenüber massiven Streitereien und Stress, worunter auch ihre Entwicklung leiden kann. Im Alter von zwei oder drei Jahren beginne ein Kind von sich selbst in der ersten Person zu sprechen und ab diesem Zeitpunkt fange auch die Entwicklung eines echten Ich-Bewusstseins an. Das Kind entwickle dann eine Vorstellung von sich selbst (wer genau er/sie ist). Diese „Vorstellung von sich selbst“ hänge auch von den Erfahrungen mit den eigenen Eltern ab und ob das Kind vorher überhaupt in seiner „Einzigartigkeit“ angenommen wurde. Herr Hüther meint, dass es nachteilig sei, Kinder zu Objekten unserer Bewertungen und Anweisungen zu machen. Sie könnten dann die Lust an der persönlichen Entfaltung, am Lernen oder am Ausprobieren verlieren. Kinder möchten als eigenständige Persönlichkeiten gesehen und auch entsprechend liebevoll behandelt werden. Als hilfsbereite Begleiter sollten wir darauf achten, dass sich ein Kind auf seinem Weg in Leben nicht verirrt.
(Interview mit Hirnforscher Gerald Hüther im Spiegel vom 28.10.2017, S. 115-116)